Wenn der ITler plötzlich wieder Papier liebt

9. November 2025

Warum kleine Zettel dem Gehirn guttun

Mein Lebensgefährte ist ITler. Seine To-Dos lebten jahrelang in Apps, Tools und perfekt sortierten Notepad-Dateien. Alles synchronisiert, automatisiert, strukturiert – theoretisch perfekt.

Und trotzdem: Nichts blieb wirklich im Blick. Das Digitale war zu unsichtbar. Zu weit weg vom Alltag. Und das, obwohl er so sorgsam all seine Dateien mit einem passenden Datum versehen hat.

Neulich erzählte er mir voller Stolz: Jetzt kleben wieder kleine Zettel am Bildschirm.
Erledigt = abreißen.
Sichtbar. Greifbar. Befriedigend.

Ich liebe das. Diese kleinen Erkenntnisse, wenn man über sich hinaus wächst, alte Gewohnheiten und Routinen hinterfragt und das eigene Verhalten nochmal auf den Prüfstand stellt. Gerade jetzt im November, wenn das Tempo sinkt und der Blick sich wieder nach innen richtet.

Das Gehirn liebt Struktur – aber nur einfache

Unser Gehirn liebt Sichtbarkeit.
Wenn wir etwas anfassen, abhaken oder wegwerfen, beruhigt das nicht nur das Gefühl, sondern auch das Nervensystem. Unser Gehirn ist ein Energiesparer. Es verbraucht rund 20 % unserer täglichen Energie, obwohl es nur 2 % unseres Körpergewichts ausmacht. Alles, was unklar, unvollständig oder zu komplex ist, bedeutet Stress.

Deshalb lieben wir Listen, Ordnung und Routinen – sie geben dem Gehirn das Gefühl von Kontrolle und Vorhersagbarkeit.

Je einfacher eine Struktur ist, desto besser funktioniert sie. Wenn Systeme zu kompliziert werden, kippt die Wirkung: Das Gehirn schaltet ab, die Motivation sinkt. Ein Blatt Papier ist dagegen simpel. Es entlastet. Und genau das ist es, was unser Gehirn am liebsten hat.

Das Digitale ist (manchmal) zu unsichtbar

Digitale Organisation funktioniert, sie funktioniert sogar sehr gut! Und als digital-affine, ehemalige IT-Projektleiterin kann ich nur von mir selbst sprechen: Apps helfen mir ungemein, meinen Alltag zu sortieren und zu strukturieren. (Kleiner Side-Effekt: Am Ende weiß ich gar nicht mehr, in welcher App, in welcher Liste, ich welches ToDo hinterlegt habe. Wild, oder?)

Aber: Sie sind körperlos. Eine Aufgabe wird in einer App abgehakt, doch das Gehirn bekommt kein echtes Feedback: Kein Geräusch, kein Rascheln, kein physischer Abschluss. Neuropsychologisch fehlt ein sogenannter sensorische Reiz – das kleine „Aha“-Signal, das dem Gehirn sagt: "Fertig! Du darfst loslassen."

Wenn wir dagegen etwas sichtbar abreißen oder durchstreichen, reagiert das Belohnungssystem (vor allem der Nucleus accumbens). Dopamin wird ausgeschüttet – das Hormon, das Motivation, Zufriedenheit und Fokus stärkt.

Ein abgerissener Zettel ist also keine Nostalgie. Er ist neurobiologisch sinnvoll.

Sichtbarkeit schafft Kontrolle und Beruhigung

Unser Gehirn mag es, Dinge sehen zu können. Wenn etwas sichtbar ist, entsteht das Gefühl von Einfluss – und das Nervensystem kann sich entspannen.

Viele Übungen aus der Arbeit mit dem Nervensystem nutzen genau diesen Effekt: Sie lenken die Aufmerksamkeit bewusst nach außen, in die Umgebung, und machen so Orientierung wieder spürbar.

Eine einfache Übung besteht darin, laut zu beschreiben, wo man gerade ist:
„Ich bin hier in Potsdam, in der Brandenburger Straße 63, in den Praxisräumen von Nicole Forrai. Hinter mir steht ein Regal, darüber hängt ein Bild. Links ist die Balkontür, rechts ein Schreibtisch mit Stuhl …“
Dieses Benennen schafft sofort Präsenz und Sicherheit.

Eine ähnliche Wirkung hat die bekannte 5-4-3-2-1-Methode – eine einfache Achtsamkeitsübung, um sich im Moment zu verankern. Sie hilft besonders bei Stress, Grübeln oder innerer Unruhe. Dabei werden die Sinne Schritt für Schritt aktiviert und man versucht auf allen Wahrnehmungskanälen Runde für Runde
  • 5 Dinge zu sehen,
  • 4 Dinge zu fühlen oder berühren,
  • 3 Dinge zu hören,
  • 2 Dinge zu riechen,
  • 1 Sache zu schmecken.
Diese bewusste Sinneswahrnehmung holt den Körper ins Hier und Jetzt. Das Nervensystem beruhigt sich, der Kopf wird klarer, der Boden unter den Füßen spürbarer.

Das hat nichts mit Kontrollbedürfnis zu tun, sondern mit einem menschlichen Grundbedürfnis nach Orientierung. In unübersichtlichen Zeiten geben sichtbare Strukturen Halt.
Darum kann eine kleine Zettelsammlung mehr bewirken als jede App: Sie zeigt Fortschritt, macht sichtbar, was geschafft ist, und erinnert daran, dass vieles in Bewegung ist.

Auch der Trend des Journaling oder Bullet Journaling baut auf genau diesem Prinzip auf. Als Mischung aus Achtsamkeitspraxis und Planungssystem verbindet er Reflexion, Struktur und Kreativität – mit Listen, Übersichten und kleinen Momenten der Selbstvergewisserung. So entsteht Ordnung, die nicht eng macht, sondern Raum schafft: für Überblick, Ruhe und Kontakt zu sich selbst.

Körper und Gehirn – ein starkes Team

Was wir mit den Händen tun, wirkt zurück aufs Gehirn.
Das Schreiben, Abhaken oder Abreißen verbindet Denken mit Handlung – und das wirkt regulierend.

In der körperorientierten Psychotherapie wird genau das genutzt: Bewegung, Atem und Körperwahrnehmung helfen, Stress zu verarbeiten und aus Grübeln ins Spüren zu kommen.

Ein Zettel ist keine Therapie, klar. Aber er ist eine Mini-Version davon: eine kleine Handlung, die das Denken erdet und ins Hier und Jetzt bringt. Jedes sichtbare „Erledigt“ aktiviert das Belohnungssystem – und dämpft gleichzeitig Stressreaktionen. Das Gehirn bekommt ein positives Feedback, und der Körper kann entspannen.

Diese kleinen Erfolgserlebnisse stärken Selbstwirksamkeit: das Gefühl, etwas bewirken zu können.
Das ist das Gegenteil von Dauerüberforderung – und genau das, was viele brauchen, wenn das Leben zu komplex wird.

Weiterführende Gedanken

In der meiner Praxis Körper. Raum. Seele. in Potsdam geht es genau darum: den Kopf und den Körper wieder in Verbindung zu bringen – über Wahrnehmung, kleine Veränderungen und spürbare Strukturen.

Mehr Informationen und Kennenlern-Sprechstunde: https://www.nicoleforrai-therapie.de/kontakt

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